
Malcom Gladwells Bestseller The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference ist um die Jahrtausendwende erschienen und somit schon ein wenig in die Jahre gekommen, was aber wenig an der Aussagekraft des Inhalts ändert. Das Thema lässt sich bereits beim Lesen des Titels erahnen. Es geht um sogenannte soziale Epidemien, um Phänomene, die durch vermeintlich irrelevante Kleinigkeiten gestartet werden, sich aber irgendwie lawinenartig zu einem gesellschaftsübergreifenden und schnell wachsenden Trend entwickeln, sobald ein gewisser Punkt (Tipping Point) überschritten wurde. Gladwell macht dafür insbesondere drei Regeln verantwortlich, von denen ich die erste in diesem Beitrag vorstellen möchte: The Law of the Few.
Der Tipping Point
Ist der Siedepunkt von Wasser ein Tipping Point? Nicht wirklich. Zwar wechselt das Wasser den Aggregatzustand von flüssig zu gasförmig, wenn die 100-Grad-Marke überschritten wurde. Allerdings kondensiert der Dampf, kühlt ab und wird wieder flüssig, sobald wir die Wärmezufuhr wegnehmen. Typisch für einen Tipping Point (auf Deutsch in etwa Umkipp-Punkt) ist allerdings, dass jeglicher Einfluss nach dem Überschreiten ohne Wirkung ist. Den Begriff findet man daher auch öfters in Debatten über den Klimawandel. Ein Argument: Sobald eine gewisse Menge des Grönländischen Eisschilds geschmolzen ist, befindet sich das Klima in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale, die durch eine Kettenreaktion entsteht.
Malcom Gladwell beschreibt den Punkt im Klappentext seines Buches so:
Der Tipping Point ist der magische Moment, wenn eine Idee, ein Trend oder eine soziale Verhaltensweise eine Grenze überschreitet, kippt und sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Eine einzelne kranke Person kann eine Grippewelle beginnen, und genauso kann ein kleiner, aber präzise gezielter Schubs einen Modetrend, die Beliebtheit eines neuen Produkts oder eine Senkung der Kriminalitätsrate bewirken. (Freie Übersetzung aus dem englischen Original)
Solche Umkipp-Punkte finden wir aber auch im sozialen Miteinander. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Man denke nur an die Modetrends der letzten Jahre. Klamotten und Accessoires aus den 1990er-Jahren werden wieder aktuell, auch wenn sie noch genauso wenig schön sind wie damals. Sobald sich eine gewisse Menge an Models und Fashion-Blogger für den Retro-Style aussprechen, kommt die Lawine ins Rollen. Bald schon fühlen wir uns beim Betrachten von Bildern auf Instagram und Facebook um 20 Jahre zurückversetzt. (Ehrlich gesagt geht mir das diesen Sommer schon so)
Das Gesetz der wenigen
Modetrends sind ein gutes Beispiel für soziale Epidemien. Wie entstehen sie eigentlich? Die Kernaussage von Gladwells Gesetz der wenigen (Original: The Law of the Few) ist, dass der Erfolg einer jeden sozialen Epidemie stark vom Einwirken bestimmter Personengruppen abhängig ist. So wie ein kleiner Schneeball eine Riesenlawine auslöst, reicht eine kleiner Kreis an Personen aus um eine ganze Gesellschaft zu beeinflussen.
Diese drei Personengruppen sind:
- Die Vermittler (Original: connectors)
- Die Erkenner (mavens)
- Die Verkäufer (salesmen)
Die drei Personengruppen werden im Folgenden vorgestellt. Vorab möchte ich aber darauf hinweisen, dass diese Idealtypen nicht strikt trennbar sind. So kann ein Erkenner auch ein Verkäufer sein. Meistens ist es sogar so, dass die Vermittler wichtige Eigenschaften mit Verkäufern teilen. Aber nun zu den einzelnen Beschreibungen.
1. Connectors: Die Vermittler
Die meisten von uns können stolz auf ihren Freundes- und Bekanntenkreis sein. Dieser besteht gewöhnlich aus Leuten, mit denen wir die größte Zeit unseres Alltags verbringen: Arbeitskollegen oder Menschen, mit denen wir dieselben Interessen und Hobbys teilen. Bei genauerer Betrachtung muss man allerdings zugeben: So richtig breitgefächert ist unser Bekanntenkreis nicht.
We’re friends with the people we do things with, as much as we are with the people we resemble
Bei den sogenannten Vermittlern ist das anders. Ihr Bekanntenkreis besteht nicht aus homogenen Verbindungen von Menschen, die sich einander bezüglich ihres Interesses und ihrer Tätigkeit gleichen. Ihr Bekanntenkreis ist wesentlich größer als der von gewöhnlichen Menschen: etwa viermal so groß. Außerdem sind die Connectors ziemlich gut daran, verschiedenste Menschengruppen zusammenzubringen. Daher haben sie auch ihren Namen. Sie haben die Kunst des Vermittelns gemeistert.
Die Kehrseite ist allerdings, dass wer so viele Menschen versucht zu verbinden, keine wirklich engen sozialen Beziehungen aufbauen kann. Man spricht in diesem Zusammenhang von weak ties, von schwachen Verknüpfungen. Das mag nun für manche traurig klingen, aber genau diese losen Verbunde sind entscheidend wenn man eine große Anzahl an unterschiedlichen Menschen zusammenbringen möchte.
The point about connectors is that by having a foot in so many worlds, they have the effect of bringing them all together.
Was macht eine Person zu einem Vermittler? Ihre Persönlichkeit, verbunden mit einer ständigen Neugier und einer Offenheit für Menschen im Allgemeinen. Connectors haben ein großes Selbstvertrauen, enorme soziale Fähigkeiten und ein hohes Maß an Energie. Sie sind äußerst gesellige Wesen.
2. Mavens: Die Erkenner
Die Aufgabe der Connectors ist es, wie wir nun Wissen, Informationen zu verbreiten. Doch damit sie überhaupt eine Nachricht haben, die es sich zu verbreiten lohnt, braucht es die Mavens. Diese Experten bekommen als erste Wind von einer Sache, z.B. von einem neuen revolutionären Produkt. Sie stehen am Anfang eines jeden Trends.
To be a Maven is to be a teacher. But it is also, even more emphatically, to be a student.
Was die Erkenner auszeichnet, ist ihr großer Schatz an spezifischem Wissen, den sie grundsätzlich gerne mit anderen teilen. Angetrieben werden sie dazu durch die soziale Motivation der Hilfsbereitschaft. So kommt es auch vor, dass ein Maven seine Kenntnisse mit einem Connector teilt, welcher die frohe Botschaft dann verbreitet.
3. Salesmen: Die Verkäufer
Die Mavens sind die Datenbank der sozialen Epidemien, an denen sich die Connectors bedienen. Sie wiederum stellen eine Art gesellschaftlicher Kleber dar, der verschiedenste Welten und Menschen verbindet. Doch damit sich eine Information wie ein Lauffeuer verbreiten kann, braucht es noch eine dritte Gruppe: Die Verkäufer.
Die große Aufgabe der Verkäufer ist es, die Informationen, welche die Mavens ausgraben, schmackhaft zu machen. Sie sind die großen Überzeuger, meist voller Energie und Enthusiasmus. Verkäufer eben – charmant und freundlich. Ihre Fähigkeit: Sie bringen uns zum Handeln.
Only the charismatic person could infect the other people in the room with his or her emotion.
Was die Personen dieser unverzichtbaren Gruppe so überzeugend macht, ist weniger das, was sie sagen, sondern die Art wie sie reden. Gladwell führt an dieser Stelle verschiedene psychologische Untersuchungen ein, die darauf hindeuten, dass wir wesentlich stärker von nonverbalen Dingen beeinflusst werden (Körperhaltung, Gesichtszüge, …) als von Worten selbst. Ein guter Verkäufer ist folglich ein Meister der nonverbalen Kommunikation. Hardselling zieht nicht.
Zusammenfassung:
Damit sich ein Modetrend oder die Bekanntheit eines neuen Produkts wie ein Lauffeuer verbreitet, braucht es drei Personen: den Erkenner, den Vermittler und den Verkäufer. Arbeiten sie zusammen, dann verbreitet sich eine Information wie eine soziale Epidemie. Wie eine Grippewelle von nur einer kranken Person gestartet werden kann, so braucht es nur eine kleine Gruppe von Menschen um einen weltweiten Trend auszulösen. Das ist das Gesetz der wenigen.
Wen das Thema näher interessiert, dem kann ich wirklich nur empfehlen, sich Gladwells Buch anzuschaffen. Am besten in der Original-Ausgabe, für nicht einmal läppische 7 Euro. Natürlich gibt es auch die gebunden Variante auf Englisch bzw. die deutsche Übersetzung von Malte Friedrich.
Das hier vorgestellte Gesetz der wenigen ist nur eines der drei Dinge, die den Erfolg einer sozialen Epidemie ausmachen. Über die anderen beiden (The Stickiness Factor und The Power of Context) schreibe ich eventuell an anderer Stelle, sofern Interesse besteht. Lasst mich in den Kommentaren wissen, was ihr davon haltet.
Jonas
Das Buch klingt spannend. Der Tipping Point ist also der Punkt, ab dem man einem System keine weitere Energie mehr hinzufügen muss um es am Laufen zu halten. In die Chemie übersetzt wäre der Tipping Point also beispielsweise das Starten einer Reaktion, welche die Energie um sich am “Leben” zu halten, selbst liefert. Eine Verbrennung zum Beispiel.
Ich werde mir mal das Buch kaufen.