Auf der Suche nach Unterhaltung für meinen Spaziergang letzte Woche bin ich über eine spannende Folge des Podcasts von Tim Ferris gestolpert. Zu Gast war A.J. Jacobs, dessen Namen mir bis dahin noch nichts gesagt hat. Wie so oft wechselten sich auch in dieser Folge wieder unterhaltsamen Anekdoten und kleine Weisheiten mit Alltagsrelevanz ab. Wer Tim Ferris und seine Bücher kennt, der weiß, was ich meine. Und Jacobs ist bei weitem kein gewöhnlicher Gast. Die Mischung klingt vielversprechend. Neugierig? Hier geht’s direkt zur Folge.
Mein Leben als ein Experiment
Während ich also durch die kalten, grauen Straßen Mannheims laufe, höre ich Jacobs absurde Geschichten. A.J. Jacobs ist ein amerikanischer Journalist und Buchautor, der ähnlich wie Tim bekannt für seine schrägen Experimente ist. Während es Tim allerdings um Selbstperfektion und Optimierung des Alltags geht, so sucht Jacobs eher nach den Dingen, die eine gute Geschichte abgeben – meist ohne Alltagsnutzen. Eher das Gegenteil ist der Fall. So hat er beispielsweise ein Buch darüber geschrieben, wie es ist, sich ein Jahr lang streng an die Regeln und Empfehlungen der Bibel zu halten (The Year of Living Biblically).
Ein anderes Buch von Jacobs mit dem überlangen Titel My Life as an Experiment: One Man’s Humble Quest to Improve Himself by Living as a Woman, Becoming George Washington, Telling No Lies, and Other Radical Tests ist ein Sammelsurium an weiteren Berichten über schräge Selbstexperimente. Wir können uns also denken, mit was für einer Person wir es zu tun haben. Mir gefällt zwar der Originaltitel besser, aber der Buchtitel der deutschen Übersetzung verrät, worum es in dem heutigen Beitrag hier gehen soll: Mensch, bist du dick geworden! So heißt nämlich ein Kapitel über die radikale Ehrlichkeit.
Radikale Ehrlichkeit? Radical Honesty, ein Begriff, der im englischsprachigen Raum bereits seit über zehn Jahren umherwandert. In der deutschen Blogger-Szene fand ich allerdings nur wenige Texte dazu. Also habe ich mir vorgenommen, selbst ein paar Worte darüber zu schreiben.
Radikale Ehrlichkeit – sollen wir immer und überall sagen, was uns auf dem Herzen liegt? Niemals lügen, sondern frei Schnauze das erste sagen, was uns in den Sinn kommt, auch wenn es andere verletzen könnte?
Wir werden es sehen. Viel Spaß beim Lesen!
Jonas
PS: Wie immer, da bin ich ganz ehrlich, freue ich mich über Kommentare.
Was ist Radikale Ehrlichkeit?
Zurück in meinem Zimmer angekommen, fing ich gleich zu recherchieren an. Ich hatte mittlerweile ja einiges über die Radikale Ehrlichkeit aus dem Gespräch von Tim und diesem schrägen Jacobs, dessen Bücher gerade auf dem Weg zu mir sind, erfahren können (Update: Das Experimente-Buch habe ich mittlerweile schon halb durch. Wirklich lustig!)
Hier die Zusammenfassung:
Radical Honesty ist eine Methode und Programm aus dem Bereich des Self-Improvements, dient also dem Ziel der Selbstverbesserung und wurde von Dr. Brad Blanton entwickelt. Seine Kernthese lautet, dass das Lügen die Hauptquelle für modernen Stress ist. Damit meint er nicht nur, dass wir uns selbst anlügen, sondern uns in sozialen Situationen gegenüber anderen verstellen, z.B. sagen, dass das Essen sehr lecker sei, obwohl wir das Weihnachtsessen der Schwiegermutter kaum den Hals hinunter bekommen.
Giving up lying is like giving up smoking. You don’t really notice how much you rely on your habit until you stop – and, only then, do you start craving the way it can help ease social situations. The proponents of Radical Honesty may be an admirable bunch, but I wouldn’t want them round for dinner. Rufus Purdy @Psychologies.co.uk
Stattdessen empfiehlt uns Blanton, immer und überall offen das auszusprechen, was wir denken. Dabei sei es egal, ob wir gesellschaftliche Tabus brechen, z.B. der Blondine an der Bushaltestelle ordinäre Komplimente über ihren Körper machen oder einem übergewichtigen Mann einfach so zu sagen: Du bist fett! Denn schließlich, so lautet zumindest Blantons These, führe die ständige Offenheit anstelle der Lügerei geradezu zu intimeren Beziehungen zu anderen und schließlich zum eigenen Glück.
Kurzum: Menschen, die sich der radikalen Ehrlichkeit verschreiben, entfernen den Filter zwischen Gehirn und Mund.
Wem diese Lebensphilosophie zusagt, der kann sich Blantons Buch Radikale Ehrlichkeit (auch im Original, wie immer ein paar Euro günstiger Radical Honesty) besorgen. Ganz motivierte können sich informieren, ob in den USA immer noch das mehrtägige Seminar für mehrere tausend Dollar zur Kunst der Radikalen Ehrlichkeit angeboten wird. Lohnt sich? Ich weiß ja nicht…
Jacobs Selbstexperiment
Man hat es vielleicht rauslesen können. Ich bin nicht so begeistert von dieser Methode. Aber zum Hinterdenken des eigenen Handelns im Alltag ist sie vielleicht zu gebrauchen. Verstellen wir uns zu sehr, um in sozialen Situationen nicht negativ aufzufallen und nicht aus dem Muster zu geraten, dann kann das durchaus auf Kosten der mentalen Gesundheit gehen.
Mal für den Moment angenommen, ich interpretiere die Methode zu negativ. Schließlich habe ich sie mir nicht von Blanton höchstpersönlich erklären lassen. Was uns zurück zu Jacobs bringt, der für seine Recherche persönlichen Kontakt zum Erfinder der radikalen Ehrlichkeit hatte.
Der Journalist hat von einigen Jahren einen äußerst unterhaltsamen Essay für Esquire mit dem Namen You’re Fat geschrieben. In diesem beschreibt Jacobs zum einen seine Erfahrung mit der Radikalen Ehrlichkeit, zum anderen aber auch die Person Blanton selbst. Die Anekdoten möchte ich hier nicht wiedergeben, da Jacobs lustige Beschreibungen nicht einfach zu kopieren oder übersetzbar sind.
Here’s the truth about why I’m writing this article: I want to fulfill my contract with my boss. I want to avoid getting fired. I want all the attractive women I knew in high school and college to read it. I want Hollywood to buy my article and turn it into a movie, even though they kind of already made the movie ten years ago with Jim Carrey. – A. J. Jacobs
Blanton selbst kommt jedenfalls nicht als sympathische Person rüber. Gegenüber Jacobs gibt er zu, dass er nicht immer und überall ehrlich ist. Nach eigenen Angaben lügt Blanton beispielsweise beim Pokern, Golf und gegenüber dem Finanzamt.
Bewertung: Was ich von der Radikalen Ehrlichkeit halte
Zwar gibt es ganze Buchreihen und Workshops zum Thema Radikale Ehrlichkeit, aber viel mehr muss man glaube ich nicht sagen. Die Kernaussage sollte klar sein. Doch was steckt dahinter?
Etwas so Alltägliches wie Lügen ist natürlich prädestiniert für (Schein-)Studien, dessen Ergebnisse dann in Form einer einfachen Headline in Hochglanz-Magazinen (oder eben Blogs) abgebildet werden können: Lügen macht dick. Lügen macht krank. Ehrlichsein macht glücklich. Schokolade hilft beim Abnehmen. Für jeden ist etwas dabei, man muss nur zugreifen!
Nun aber mal ehrlich. Dass ständiges Lügen gegenüber anderen und uns selbst nach hinten losgehen kann, dafür brauchen wir keine Fokusgruppen und Stanford-Wissenschaftler. Vieles geschieht gar an unserem Bewusstsein vorbei, wie der Psychologe und Forscher Dan Ariely seinem Buch The Honest Truth About Dishonesty (deutsche Version) erklärt, das ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Das mag ja alles stimmen und bekannt sein, der Umkehrschluss gilt aber deshalb noch lange nicht. Das Credo darf nicht sein: Ja, dann sind wir eben immer und überall radikal ehrlich.
Höflichkeitsfloskeln und dieser Filter zwischen Gehirn und Mund, den Blanton entfernt sehen möchte, haben doch ihre Daseinsberechtigung, – nämlich im sozialen Miteinander. In gewissen Mengen führen sie dazu, dass die Gesellschaft friedlicher ist. Man stelle sich nur mal vor, jeder lässt seine Geschmacksäußerung von sich, wann immer ihm danach ist. Wir hätten eine Innenstadt voller Meckerer und manche kämen von den Schaufenstern von Primark und Co. gar nicht mehr fort.
Das meiste davon ist eben nichts weiter als eine Meinung, die per Definition nicht allgemein gültig ist. Was wäre mit einem “Deine Frisur sieht scheiße aus!” schon gewonnen?
Nein, man muss nicht immer radikal ehrlich sein. Man muss die Folgen der eigenen Handlung bewusst machen. Sind sie gut? Führt es zu mehr Problemen wenn ich gerade komplett ehrlich bin? Die Ethikdiskussion lass ich an dieser Stelle aus. Selbstverständlich kommt es auf den Rahmen und auf die Situation an. Aber zumindest ein Großteil dessen, was die Vertreter der Radikalen Ehrlichkeit fordern, ist Blödsinn.
Ein US-Phänomen?
Vielleicht ist es auch eine kulturelle Sache. Wirft man uns Deutschen nicht vor, zu ehrlich zu sein? Und gelten die Amerikaner nicht als Personen der falschen und aufgesetzten Höflichkeit? Oh, that’s nice. Thanks!
Eine amerikanische Studie von 1996 hat knapp 150 Leute jeden Alters für eine gewisse Zeit lang eine Tagebuch führen lassen, in das sie all die kleinen und großen Lügen aufschreiben sollten, welche im Laufe des Tages über ihre Lippen wanderte. Das Ergebnis: die meisten Leute lügen zwei bis drei Mal täglich. Sowohl weibliche als auch männliche Testpersonen logen in etwa einem Fünftel aller sozialen Interaktionen, die länger als zehn Minuten gingen. Schlechtes Gewissen? Die Teilnehmer gaben an, etwa drei Viertel der Lügen zu wiederholen, hätten sie die Chance dazu. Das deutet nicht gerade von Reue (Psychology Today: The Truth About Lying).
Ja, es wird gelogen. Ja, es wird wahrscheinlich zu viel gelogen. Aber immer und überall das sagen, was man gerade denkt, macht die Welt nicht besser, sondern wahrscheinlich unglücklicher. Der Tipp stattdessen: Hinterfragen, was man sagt und was man besser nicht oder anders sagen sollte. Darüber muss man nicht mal ein Buch schreiben oder einen Workshop abhalten.
Jan says
Hallo Jonas,
ein schöner Artikel. Wie immer super geschrieben und schön sachlich, ohne zu langweilen 🙂
ja, dieser radikale Ehrlichkeit-Ansatz ist ein schönes Beispiel dafür, dass die Umkehrung von etwas Unperfektem nichts Perfektes hervorbringt. Das ist einfach ein Schnellschuss, der die Dinge nur auf eine andere Art und Weise unperfekt macht. Da es schön einfach und plakativ ist, gefällt das den Leuten natürlich. Alle deine Probleme werden gelöst sein, wenn du nur damit aufhörst zu lügen. A.J. Jacobs geht da schon den richtigen Weg und testet es einfach aus.
Wenn etwas so weit verbreitet ist, wie das Lügen, dann sollte man sich doch erstmal fragen, warum es das gibt. Welche Funktion haben Lügen? Und was passiert wenn diese Funktion wegfällt? Ich denke auch nicht, dass man alle Lügen gleich behandeln kann. Gar nicht mehr zu lügen impliziert außerdem, dass es eine Wahrheit gibt, was auch nicht immer zutrifft. Oder geht es nur darum, nicht mehr bewusst zu lügen? Ich glaube viele Lügen sind uns gar nicht bewusst. Dazu gibt es ein schönes Buch von Robert Trivers: “Betrug und Selbstbetrug”. Seine These: Wir betrügen uns selbst, damit wir andere Menschen glaubhafter betrügen können.
Ich glaube, viel wichtiger, als damit aufzuhören, andere zu belügen, sollte sein, dass man eine Atmosphäre schafft, in der andere Menschen ungestraft die Wahrheit sagen können. Wobei auch das sicherlich diskutabel ist.
Viele Grüße und bis bald,
Jan
Jonas says
Hi Jan,
danke für dein Input. Du bringst es auf den Punkt: Wer Geld verdienen will, der verkauft eine vereinfachte, plakative Idee in Form von Büchern und Workshops, die angeblich alle Probleme der “Kunden” löst. Ziemlich shady, funktioniert aber leider besonders auf dem amerikanischen Markt wunderbar.
Da ist es doch besser, mann schaut sich die wissenschaftlichen Befunde an und analysiert die Theorie kritisch. Insbesondere in Hinblick auf mögliche Negativ-Szenarien und unerwünschten Konsequenzen. Ein Schritt vorne und zwei zurück – das bringt einen schließlich auch nicht voran.
Grüße
Jonas
Paul says
Hey Jonas,
Also ich muss zugeben, dass ich dieses Thema echt mega spannend finde. Jedoch weiß ich nicht, was ich so richtig davon halten soll. Auf der einen Seite finde ich schon, dass wir uns zu sehr verstellen und hin und wieder öfter mit der Wahrheit rausrücken sollten. Auf der anderen Seite ist es für unsere Mitmenschen ja auch sehr unangenehm, wenn wir sie auf jede negative Eigenschaft hinweisen. Ist schon echt nen schwieriges Thema
mfg Paul
Jonas says
Hi Paul,
selbstverständlich gibt es da nicht dieses Schwarz-Weiß was Autoren solcher Bücher meist beabsichtigen. Die Welt ist nun mal nicht so simpel, als dass man ein Pauschalurteil fällen könnte.
Was ich allerdings mitnehme, ist ein gewisser Selbstanspruch: Wann verhältst du dich nicht 100 % korrekt und wäre es nicht besser, du würdest offen die Wahrheit sagen statt um den heißen Brei herumzureden. Verschiedene Szenarien durchrechnen und sich für eines entscheiden.
Gruß
Jonas
Deniz says
Hi Jonas, ein schöner Artikel!
Auch ich habe mich einmal mit radikaler Ehrlichkeit beschäftigt. Mittlerweile bin ich jedoch der Meinung, dass man mit dem Versuch der radikalen Ehrlichkeit sein Leben möglichst simpel gestalten möchte. Von wegen “ich war ehrlich, damit ist die Sache abgehakt”.
Leider sehe ich die Sache wie du. Undzwar würde es zu keiner besseren Welt führen. Klar, eine gewisse Menge mehr an Ehrlichkeit würde sicher nicht schaden. Doch würden viele Menschen unter negativen Aussagen, auch wenn sie der Wahrheit entsprechen, leiden.
Ich denke die Wahrheit etwas netter verpackt ist “the way to go”.
Beste Grüße,
dein Deniz.
Tilman says
Hallo, danke für den Artikel, möchte allerdings ein wenig die radikale Ehrlichkeit verteidigen. Sicherlich macht es keinen Sinn, einfach immer das zu sagen, was einem in den Kopf kommt. Darum geht es aber meinem Verständnis nach auch nicht. Vielmehr geht es darum, wo man systematisch, gewohnheitsmäßig lügt oder Dinge verschweigt, diese auszusprechen (und das passiert immer noch SEHR häufig, sicherlich meist mehr als 3 Mal am Tag). Wenn ich immer wieder jemandens Frisur häßlich finde und mich dieser Gedanke daran hindert der Person auch darüber hinaus offen gegenüber zu sein, dann sollte ich diesen Gedanken (aber als meinen Gedanken, nicht als Wahrheit) in möglichst respektvoller Art dem anderen offenbaren. Dann wird der Weg frei zu einer besseren Beziehung. Es geht weniger darum keinen Filter zwischen Kopf und Mund zu haben, als keinen Filter zwischen Herz und Mund. Der Kopf fungiert selbst schon zu oft als Filter. Das ist natürlich jetzt ein weites Feld. Das das ganze theoretisch gesehen nicht so riesig revolutionär ist stimmt wahrscheinlich auch, aber in der Praxis fällt es unglaublich schwer (gerade deswegen ist eine Workshop vielleicht nicht so blöd, denn da geht es weniger um die Theorie, als sich mal den ganzen Ängsten zu stellen, aus denen heraus wir vieles nicht zeigen wollen). Naja, mal ein paar alternative Gedanken zu dem Thema.
Beste Grüße
Jonas says
Hallo Tilman,
vielen Dank für deine Gegendarstellung. Das war mein Ziel beim Schreiben des Artikels, weshalb er auch sehr einseitig und mindestens so provokant wie das Thema selbst ist – Diskussion anregen.
Liebe Grüße
Jonas