
Fast pünktlich zum dritten Geburtstag von Gedankennahrung habe ich mich mal wieder hingesetzt und etwas für die Kategorie Gedankenhäppchen geschrieben. Eine kurze Geschichte aus meinem Alltag, die mich zum Nachdenken brachte. Kein wissenschaftlicher Aufsatz oder Theorie, keine Buchempfehlung, einfach nur Storytelling.
Und da ist mir vor ein paar Tagen etwas passiert, das mich immer noch nachdenken lässt.
Viel Spaß mit diesem kleinen Häppchen für zwischendurch. Und beim Nachdenken.
Jonas
PS: Falls du eine ähnliche Erfahrung gemacht hast, schreibe es gerne in die Kommentare.
Eines Abends in Düsseldorf
Jeden Donnerstag gehen wir Praktikanten von L’Oréal gemeinsam Abendessen und ziehen anschließend durch die Altstadt Düsseldorfs. Wer besonders motiviert ist, der geht danach noch in einen Club und gibt zehn Euro oder mehr für ein Getränk aus. Wer aber zu den ältesten Praktikanten zählt – so wie ich – der verabschiedet sich relativ früh und geht nach Hause, um am nächsten Tag fit im Büro zu erscheinen. Meistens verpasst man eh nichts und in diesem Fall kann ich nur sagen: Ich bin froh, dass ich heimgegangen bin. Denn auf dem Weg zu meiner Wohnung hatte ich ein Gespräch, das mich zum Nachdenken brachte.
Ihr habt sie bestimmt schon mal gesehen. Es gibt sie in jeder größeren Stadt. Leute, die sich mit dem Verkauf der Obdachlosenzeitung über Wasser halten und nebenbei noch Kleingeld oder Pfandflaschen sammeln. Beim Rewe vor meiner Haustür steht so jemand. Er nennt sich Steel, sieht aus wie ein Metaller, ist schätzungsweise Mitte zwanzig, ist ruhig, höflich und fit im Kopf. So steht er da jeden Abend und unterhält sich nett mit denen, die noch schnell vor Ladenschluss etwas einzukaufen haben. Bei ihm stand noch ein Pfandflaschensammler, dessen Namen ich allerdings vergessen hatte. Nennen wir ihn Martin, damit ich nicht immer “der Pfandflaschensammler” sagen muss.
Ich wusste, dass Steel sich gerne unterhält. Und da ich in guter Laune war und noch ein angefangenes Bier in der Hand hatte, fing ich ein nettes Gespräch mit den beiden an. Es war von Anfang an ein Gespräch auf Augenhöhe. Ich fragte sie, wie es ihnen so geht und sie meinten, sie können sich nicht beklagen. Beide seien mittlerweile runter von der Straße, soll heißen, sie haben zwar keinen Job, aber ein Dach über dem Kopf und Betreuer, die sich um sie kümmern. Sie können kommen, wann sie wollen. Martin erzählte mir stolz, er habe jetzt sogar eine Freundin und einen eigenen Kühlschrank im Keller. Und wenn jemand ein kaltes Getränk möchte, dann gibt er gern eins aus.
Eine französische Bar oder so was
Plötzlich fragte Martin, ob ich denn Arbeit hätte. Man muss dazu sagen, ich stand da mit Hemd und allem, was schon einen rein optischen Kontrast zu den anderen beiden bedeutet. Ich sagte, dass ich aktuell bei L’Oréal arbeitete. Martin und Steel schauten mich fragend an. Ein paar Sekunden Stille. Dann fragte Steel: “Ist das eine Bar oder so etwas?”
Ich war perplex. Lass dir den Moment mal auf der Zunge vergehen. Da nennst du eine der weltweit bekanntesten Marken, einen globalen Konzern mit zweistelligen Milliardenumsatz, Werbung an jeder Ecke, in jedem Magazin und auf jedem Bildschirm, und dann gibt es Leute, die das nicht kennen?
Natürlich gibt es die, Jonas. Das nennt sich Filterblase. Aber so einen krassen Realitätscheck hatte ich schon lange nicht mehr, wenn überhaupt. Ich hatte natürlich nicht erwartet, dass sie sich für Kosmetikprodukte und Beauty interessierten, aber manche Namen kennt man einfach. Nike, Coca Cola, McDonald’s – L’Oréal. So dachte ich zumindest.
Realitätsferne des Geldes
Ein anderer Obdachloser, der ziemlich geschlagen aus dem Rewe rauskam, ließ sich gegenüber an einem Hauseingang nieder. Steel ging zu ihm und die beiden unterhielten sich. Worüber weiß ich nicht, denn ich lauschte weiterhin der Geschichte des Pfandflaschensammlers Martin. Er ist ursprünglich aus den Niederlanden, floh aber früh aus seinem Elternhaus nach Deutschland. Ein ordentlicher und aufrichtiger Kerl, wie die Geschichte verdeutlicht, die er mir dann erzählte.
“Ich habe mal ein Smartphone gefunden, aber konnte nichts mit anfangen. Ich habe ja schon ein Handy.” Er zeigte mir sein altes Nokia, mit Tasten und ohne Touch-Funktion. “Ich konnte nicht mit umgehen. Aber da rief mich jemand an und ich ging ran.”
Es war ein junges Mädchen, die Besitzerin des verlorenen Geräts. Martin erklärte am Telefon, dass er es ihr gerne zurückgeben würde. Also machten sie einen Treffpunkt aus, nicht weit weg von der Stelle, an der wir uns unterhielten. Er beschrieb, wie überglücklich sie war, als sie ihr Telefon wiederbekommen hatte.
Ihr Freund war auch dabei und belohnte die Ehrlichkeit von Martin mit einem Sack voller Pfandflaschen aus dem Keller. Er schien fast noch mehr verwundert über die ganze Situation gewesen zu sein als seine Freundin. Er fragte Martin: “Weißt du eigentlich, was das Handy kostet? 700 €!” Martin war perplex. Man muss sich mal überlegen, was ein solcher Betrag für einen Pfandflaschensammler bedeutet. 700€ sind 2.400 Plastikflaschen und 1.200 Bierflaschen.
Ich weiß nicht, wie lange man dafür durch die Mülltonnen der Stadt kramen muss. Wochen? Monate? Und dazu im Kontrast die Aussage von Martin, der das Geld wirklich gut gebrauchen könnte: “Was soll ich damit. Ich habe bereits ein Handy”
Das ist Bodenständigkeit, von der ich mir gerne ein Stückchen abschneide und mit Hochachtung bezahle.
Bottom Line
Jetzt kommt der Teil, in dem ich an die Moral des Lesers appelliere. Wir haben tief im Innern alle im Grunde dieselben Sorgen und Wünsche, sind Menschen usw. Das lasse ich sein. Es mag ausgelutscht klingen, aber das macht es nicht weniger wahr.
Stattdessen schlage ich vor, dass du auch mal wach durch die Innenstadt gehst und wenn sich die Situation ergibt, dich mit einem Obdachlosen für nur ein paar Minuten unterhältst. Das ist ihnen oft sogar lieber als Geld, denn die Konstanz der soziale Ausgrenzung schmerzt mehr als es temporärer Hunger tun kann.
Die beiden hatten sich jedenfalls sehr darüber gefreut, dass ich mich so ganz normal mit ihnen unterhalten habe. Wie der niederländische Pfandflaschensammler Martin sagte: Das ist selten.
Es sollte öfters sein.
Hier noch eine kleine Medienempfehlung: WR411 Andi
Holger Klein war in einer ähnlichen Situation wie ich. Vor der Aldi-Filliale am S-Bahnhof Tempelhof, in der Holgi seinen Einkauf tätigt, sitzt Tag für Tag dieselbe Person: Andi. Da hat er sich einfach mal mit ihm unterhalten und das Gespräch als Podcast aufgezeichnet. Nachzulesen gibt es das ganze auch bei der FAZ.
Hallo Jonas,
also beim Lesen musste ich schon mehrmals inne halten. Ein unglaublicher Artikel der mir nahe gegangen ist.
Das ist mal eine Realstory die zum nachdenken anregt.
Ich kann nur an jeden appellieren, für einen Augenblick aus dem gesellschaftlichen Tunneldenken und dem Konsumwahn auszubrechen und sich über solche Dinge Gedanken zu machen.
Den Artikel teile ich gleich über meine Social Media Kanäle.
Viele Grüße
Sladjan
Hallo Sladjan,
danke! Genau so ging es mir auch. Deshalb wollte ich diese kleine Geschichte teilen.
Wenn man wacher durch die Stadt geht, erkennt man Erstaunliches, was einem sonst womöglich für immer verborgen bleibt.
Gruß
Jonas