
In diesem Blogpost geht es wieder einmal darum, warum wir Menschen wohl doch nicht so rationale Entscheider sind, wie es die klassische Ökonomie gerne hätte. Es geht um den Ankereffekt: Warum Dinge, ohne Informationsgehalt unsere Schätzungen beeinflussten. Anhand von zwei Experimenten möchte ich zeigen, wie irrational wir uns doch manchmal verhalten. Daniel Kahneman wird das Phänomen des anchoring (deutsch: Ankereffekt) erklären und begründen, bevor ich auf die Risiken und den Missbrauch aufmerksam mache.
Experiment Nr. 1
- Beträgt die Höhe des größten Küstenmammutbaums mehr oder weniger als 366 Meter?
- Wie hoch ist Ihrer Meinung nach der größte Küstenmammutbaum?
Diese beiden Fragen wurden einigen Besuchern eines naturwissenschaftlichen Museums in San Francisco gestellt. Eine Untersuchung, bei der es um den sogenannten Ankereffekt geht. Im Schnitt schätzen die Probanden die Größe auf 257 Meter.
Einer anderen Gruppe von Besuchern wurde diese Frage in einer abgewandelten Form gestellt:
- Ist der größte Mammutbaum höher oder niedriger als 55 Meter?
Interessanterweise betrug die durchschnittliche Schätzung nun 86 Meter.
Verantwortlich für die unterschiedliche Schätzungen ist die jeweils vorgegebene Bezugsgröße – 366 oder 86. Sie wird Anker genannt und hat offensichtlich einen enormen Einfluss auf die Schätzung der Befragten.
Der Ankereffekt
Der Ankereffekt gilt als einer der zuverlässigsten und eindeutigsten Befunde der Verhaltenspsychologie. Das Internet spuckt folgende Definition aus:
Der Ankereffekt ist ein Begriff aus der Kognitionspsychologie und beschreibt das Phänomen, dass Menschen bei bewusst getroffenen Wahlen von vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst ist.
Quelle: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik
Link: http://lexikon.stangl.eu/5691/ankereffekt/
Im ersten Beispiel waren es die jeweils vorgegebenen Zahlen, die die Schätzung der Befragten unterbewusst beeinflussten. Eine Form der Manipulation also. Dazu später mehr. Nun ein weiteres Beispiel.
Experiment Nr. 2
Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman schreibt in seinem Psychologie-Bestseller Schnelles Denken, Langsames Denken (Affiliat-Link) über ein Experiment, dass er mit Amos Tversky (kennen wir schon) abgehalten hat.
Studenten der Universität Oregon wurden gebeten an einem Experiment teilzunehmen, bei dem sie zunächst ein Glücksrad drehen sollten. Das Rad war von Kahneman und Tversky so manipuliert, dass es entweder bei 10 oder bei 65 stehen blieb.
Anschließend sollten die Probanden eine Frage nach dem Schema von Experiment Nr. 1 beantworten:
- Ist der Prozentsatz afrikanischer Staaten unter den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nation größer oder kleiner als die Zahl, die Sie gerade aufgeschrieben haben?
- Wie hoch ist Ihrer Einschätzung nach der Prozentsatz afrikanischer Staaten in den Vereinten Nationen?
Man erkennt schnell, dass die beiden Teile des Experiments keinen rationalen Zusammenhang haben. Das Ergebnis des Glücksrads sollte keinen Einfluss darauf haben, wie wir die obige Fragen beantworten.
Doch das Ergebnis des Experiments ist überraschend! Zumindest, wenn man noch nie etwas von dem Ankereffekt gehört hat.
Der mittlere Schätzwert von denjenigen, bei denen das Glücksrad bei 10 stehen blieb war 25 %. Die Glücklichen, bei denen das Rad bei 65 stehen blieb, schätzen im Durchschnitt den Prozentsatz der afrikanischen Mitgliedstaaten in der UN auf 45%.
“Was hier geschieht, ist ein Beispiel für einen der zuverlässigsten und robustesten Befunde der experimentellen Psychologie: Die Schätzwerte bleiben nahe bei der Zahl, die den Personen im Vorfeld dargeboten wurde.” – Daniel Kahneman
Die Probanden hätten den ersten Teil des Experiments einfach ignorieren sollen, da das Glücksrad keinerlei sinnvolle Informationen für die Beantwortung der Frage liefert. Haben sie aber nicht. Die Schätzzahl blieb nahe bei der Zahl, die sie vorher beim Glücksrad zugewiesen bekommen haben.
Daher auch der Name Ankereffekt: Die vorher gezeigte Zahl dient als Anker, der unsere Schätzung beeinflusst und in dessen Richtung zieht.
Begründung des Phänomens
Kahneman und Tversky waren sich damals uneinig, wie sich das Ergebnis des Experiments begründen lässt. Seither sind ein paar Jahrzehnte vergangen und man ist sich mittlerweile einig:
Ankerung ist eine unterschwellige Manipulation, die ähnlich der Suggestion ist (Das Wort Suggestion kommt vom Lateinischen und heißt dort etwa so viel wie hinzufügen oder einflüstern).
Doch wie genau muss man sich das vorstellen? Am besten lässt sich das an einem weiteren Beispiel erklären.
Die deutschen Psychologen Thomas Mussweiler und Fritz Strack stellten folgende Fragen nach bekanntem Muster:
- Ist die Jahresdurchschnittstemperatur in Deutschland höher oder niedriger als zwanzig Grad Celsius?
- Höher oder niedriger als fünf Grad Celsius?
Anschließend wurden den Probanden kurz Wörter gezeigt, die sie erkennen sollten. Das Ergebnis: Wer die Frage mit der höheren Temperatur gestellt bekommen hatte, der erkannte wesentlich häufiger Wörter mit Sommer-Bezug (Sonne, Strand,…) und umgekehrt, wem die andere Frage gestellt wurde, der erkannte im Schnitt häufiger Wörter, die mit Winter (Frost, Ski, …) assoziiert werden.
Die unterschiedliche Temperatur in den beiden Fragen aktivierte bei den Probanden entweder eine Erinnerung an die warme oder kalte Jahreszeit, und beeinflusste somit die Wahrnehmung von Wörtern der jeweiligen Kategorie.
Oder wie es Kahneman ausdrückt:
“Die selektive Aktivierung kompatibler Gedächtnisinhalte erklärt die Ankerung: Die hohe und die niedrige Zahl aktivieren verschiedene Vorstellungskomplexe im Gedächtnis.” Kahneman – Schnelles Denken, Langsames Denken
Ge- und Missbrauch des Ankereffekts
Nun, ein so starker Effekt wie der Ankereffekt ist natürlich prädestiniert um missbraucht zu werden.
So ist zum Beispiel die willkürliche Rationierung eine sehr erfolgreiche Marketingstrategie.
Im einem amerikanischen Supermarkt wurde das untersucht. Im Rahmen einer Werbeaktion wurden Suppendosen 10% günstiger angeboten. An manchen Tagen wurde ein Schild mit der Aufschrift “Maximal zwölf Dosen pro Person” am Regal angebracht. An anderen Tagen konnte man auf dem Schild lesen, dass es keine Begrenzung pro Person vorliegt.
Das Ergebnis: Mit der Begrenzung kauften die Kunden durchschnittlich 7 Dosen und somit doppelt so viel wie die Kunden an Tagen ohne Beschränkung kauften. Der Anker (12) beeinflusste die Kunden dazu, mehr zu kaufen.
Auch bei Verhandlungen begegnet man dem Ankereffekt. Wird zum Beispiel über den Kaufpreis einer Immobilie entschieden, so ist es ratsam, als Erster eine Zahl vorzuschlagen. Die kann dann als Anker Einfluss auf die Schätzung und Bewertung des Gegenübers nehmen.
Eine Sache noch
Zum Ende sei noch gesagt, dass der Ankereffekt nur bei Schätzungsfragen vorliegt. Fragt man Meteorologen nach der Durschnittstemperatur in Deutschland, so werden sie weniger durch den Anker beeinflusst. Ebenfalls lässt sich ein gut informierter und erfahrener Markler nicht durch unseren manipulativen Preisvorschlag beirren. Und wer weiß, wie groß der Anteil afrikanischer Staaten in der UN ist, dem ist es egal, ob das Glücksrad bei 10 oder 65 stehen bleibt.
Interessant ist das Phänomen trotzdem. Denn wie oft werden wir im Alltag angehalten, Schätzungen abzugeben? Dauernd! Vielleicht werden wir nicht direkt gefragt und sicherlich sind es meistens nicht solche Fragen, wie die Psychologen in den Experimenten gestellt haben. Aber unterbewusste Bewertungen und Schätzungen sind ein großer Teil unseres Alltags.
Wie hoch ist denn nun der Mammutbaum?