
In einem 1977 erschienen Paper mit dem wunderbaren Titel Telling More Than We Know berichten die Professoren Richard Nisbett und Tim Wilson von einer ulkigen Beobachtung. In der Nähe einer Mall bauten sie einen kleinen Stand auf. Vorbeilaufende Frauen fragten sie, welcher der vier Nylonstrümpfe, die auf dem Tisch lagen, denn der schönste sei.
Den meisten gefiel der Strumpf, der ganz rechts auf dem Tisch lag. Fragte man die Frauen, warum ihnen genau dieser Strumpf so zusagt, dann antworteten sie:
- “Der ist von höher Qualität!”
- “Die Farbe gefällt mir sehr.”
- “Es ist aus einem besonderen Material”
Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten. In diesem Fall war es aber so, dass alle vier Strümpfe identisch waren. Ein faktischer Unterschied in der Farbe und der Qualität lag also nicht vor. Trotzdem schien den befragten Frauen ein Strumpf besser zu gefallen.
Als die Forscher die Frauen darauf aufmerksam machten, dass sie sich nur aufgrund der Position für den Strumpf ganz rechts entschieden hätten, wurden sie komisch angeschaut. Die Befragten wollten es nicht glauben.
Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomie und Psychologie an der Duke University, folgert:
We may not know exactly why we do what we do. But the obscurity of our real motivations doesn’t stop us from creating perfectly logical-sounding reasons for our actions, desires, and feelings.
In seinem Buch The (Honest) Truth About Dishonesty: How We Lie to Everyone – Especially Ourselves nutzt er diese Untersuchung als Ausgangspunkt für eine weitere interessante Frage: Wie sehr belügen wir uns selbst?
Wie wir uns selbst betrügen
Eine Kernaussage von Ariely ist, dass wir gerne einen Vorteil aus gewissen Situationen ziehen. Das ist aber nicht immer mit unserem Gewissen und den Erwartungen von anderen vereinbar. Wir wollen als ehrliche Personen gesehen werden – besonders von uns selbst. Also erfinden wir Rechtfertigungen für unser Verhalten. So können wir beides haben: Den Vorteil durch Unehrlichkeit und gleichzeitig die innere Ruhe und das Gewissen, nichts Falsches getan zu haben.
Ariely möchte sich da keinesfalls rausnehmen. Er erzählt von seiner Suche nach einem neuen Auto. Zuvor ist er nur Motorrad gefahren, doch nun war es Zeit, das gefährliche Ding durch ein Auto zu ersetzen. Aber was für eins? Zum Glück gab es da eine Website, die Hilfe versprach. Man brauchte nur einen knapp zwanzigminütigen Test auszufüllen, dann spuckte die Website das perfekte Auto für einen heraus. Im diesem Fall einen Ford Taurus.
Obwohl Ariely nicht viel über Autos wusste – eines war ihm klar: Ich in einem Taurus? Das geht gar nicht! Also ging er zurück, füllte die Fragen anders aus, wiederholte den Test solange, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war.
Solche Situationen kennen wir auch aus unserem Leben. Wir können uns nicht entscheiden, werfen eine Münze, sind aber dann doch nicht mit dem Ergebnis des Wurfs zufrieden. Also werfen wir nochmals.
Warum verhalten wir uns so? Warum konsultieren wir einen Dienst oder werfen eine Münze, wenn wir das Ergebnis eh verwerfen, sollte es uns nicht zusprechen? Manchmal haben wir ein Bauchgefühl, brauchen aber einen vermeintlich rationalen Grund als Rechtfertigung, um es auch umzustzen, was wir intuitiv für richtig halten.
Untersuchung: Kreativität und Ehrlichkeit
Bleiben wir bei Arielys These: Wir lügen eigentlich gerne zu unserem Vorteil, brauchen aber irgendeine vermeintlich rationale Rechtfertigung, um unser Gesicht zu wahren. Anders ausgedrückt: Wir erfinden eine Geschichte für uns selbst.
Nun ist es ja bekanntlich so, dass manche Leute mehr Fantasie haben als andere. Sie sind kreativer und ihnen fällt es leichter, sich eine solche Rechtfertigung auszudenken. Zwei Fragen stehen im Raum:
- Sind kreative Menschen auch die besseren Lügner?
- Lügen kreative Menschen mehr als andere?
Um das herauszufinden, stellten die Forscher Dan Ariely und Francesca Gino eine Reihe von Studien an.
Schritt 1: Kreativität
Im ersten Schritt gab man den Probanden eine Sammlung an Fragen gefolgt von kleinen Tests. Die meisten Fragen und Aufgaben waren irrelevant für die Untersuchung. Außer die Fragen, die man in diese drei Kategorie einordnen kann:
- Wie schätzt sich der Proband bezüglich seiner Kreativität selbst ein?
- Wie oft betätigt sich der Proband kreativ?
- Wie sehr identifiziert sich der Proband mit kreativen Aussagen?
Schritt 2: Ehrlichkeit
Nachdem man ein Persönlichkeitsprofil der Studienteilnehmer erstellt hat, sollte im nächsten Schritt ihre Ehrlichkeit gemessen werden. Dazu verwendeten die Forscher die Punkte-Aufgabe (Dot Task). Das folgende Bild erklärt auf einen Blick, worum es bei dieser Aufgabe geht.
Im ersten Durchgang werden der getesteten Person 100 solcher Bilder für jeweils den Bruchteil einer Sekunde gezeigt. Anschließend muss sie entscheiden: Waren mehr Punkte auf der linken oder auf der rechten Seite des Strichs? Nach den besagten hundert Durchgängen kann man errechnen, wie gut die Person in dieser Aufgabe ist (Prozentwert X).
Im zweiten Durchlauf werden der Person ebenfalls solche Kästchen gezeigt. Wieder muss sie entscheiden, ob mehr Punkte in der rechten oder linken Hälfte waren. Aber unabhängig davon, ob ihre Antwort richtig ist, soll nun gelten: Entscheidet sie sich für rechts, dann bekommt sie 5 Cent. Für links aber nur einen halben. Wieder wird die Quote errechnet (Prozentwert Y).
Vergleicht man nun den Wert X mit dem Ergebnis Y des zweiten Durchgangs, dann lässt sich der Einfluss des Geldes auf die Ehrlichkeit der Person berechnen. Ist ihre Trefferquote im zweiten Durchlauf mit Abstand schlechter als im ersten, und hat sie unverhältnismäßig oft den rechten Kopf (5 Cent) betätigt, dann hat sie offensichtlich geschummelt. Ein klassischer Interessenkonflikt zwischen Ehrlichkeit und Nutzen.
Das Ergebnis
Den Forschern viel auf: Je stärker die Probanden beim Persönlichkeitstest als kreativ eingeschätzt wurden, desto eher schummelten sie bei der Punkte-Aufgabe. Besonders wenn unklar war, ob nun mehr Punkte auf der einen oder anderen Seite sind, entschieden sie sich für rechts. Ihre Kreativität half ihnen dabei, eine Begründung für diese Entscheidung zu finden.
Die Forscher folgerten daher, dass Kreativität mit Unehrlichkeit zumindest korreliert. Intelligenz wiederum steht in keinem Zusammenhang mit Ehrlichkeit, so das Ergebnis einer Folgestudie. Übrigens auch spannend: Wenn die Probanden auf Kreativität geprimt wurden, verhielten sie sich ähnlich unehrlich wie die von Natur aus Kreativen.
Mehr zum Thema Selbstbetrug
Wer Lust hat, mehr über die Art zu lesen, wie wir uns im Alltag selbst betrügen, dem kann ich das zweite Buch von Dan Ariely – The (Honest) Truth About Dishonesty – nur empfehlen.
- Ist Unehrlichkeit ansteckend?
- Sind Leute, die gefälschte Markenklamotten tragen, unehrlicher?
- Wie beeinflusst Willenskraft unsere Moral?
- Hat die Gefahr, erwischt zu werden, einen Einfluss darauf, ob wir betrügen?
- Erhöht Religion unsere Ehrlichkeit?
Solche und viele weiteren Fragen werden behandelt – natürlich immer mit Bezug auf psychologische Studien und Untersuchung.
Das populärwissenschaftliche Buch lässt sich leicht nebenher lesen und ist auch im Original gut verständlich. Die deutsche Übersetzung kann man hier als gebundene Ausgabe bzw. als Taschenbuch erwerben. Am günstigsten ist aber die Original-Ausgabe, die aktuell lediglich 7 Euro kostet.
Hallo, interessanter Artikel. Ganz allgemein ist es hilfreicher, wenn man zu verstehen versucht, warum Menschen etwas tun (z.B. lügen), als ihr Verhalten abzustempeln. Im Alltag neigen wir zwar dazu, wenn wir uns schnell ein Urteil bilden müssen. Aber das ist ja das Gute an der Wissenschaft, dass sie uns zur Reflexion einlädt.
Viele Grüße
Elmar Basse
Ja, dieses Verhalten ist menschlich. Durch solche Untersuchungen und Studien werden sie uns oft auch erst bewusst.
Hi Jonas,
echt interessant sich einmal mit diesem Thema zu beschäftigen! Dass Menschen sich oft selbst belügen ist im Alltag doch recht oft zu beobachten. Doch ist das auch wirklich immer so schlecht? Ehrlich gesagt finde ich es extrem hilfreich sich selbst etwas vormachen zu können, wenn man das bewusst macht und eben in entsprechenden Angelegenheiten verwendet.
Was das Lügen betrifft: Ich bin ein Fan von Ehrlichkeit. Doch leider stellt sich eben heraus dass alle Menschen lügen. Ist es aber wirklich verwerflich wenn sie unbewusst lügen? Du hast mich gerade wirklich zum Nachdenken angeregt. 🙂
Alles Liebe
Tina
Hallo Tina,
um moralische Wertung ging es Dan Ariely und den Forschern nicht. Dass wir uns im Alltag selbst belügen und auch anderen gegenüber unbewusst flunkern, ist ja bekannt.
Trotzdem ist es eine spannende Frage: Kann etwas verwerflich sein, dass wir gar nicht bewusst tun?
Da wären wir aber beim Bereich der Philosophie und nicht mehr bei der empirischen Psychologie.
Da dich das Thema ja trotzdem zu interessieren scheint, ein weiterer Anreger für dich: Warum bestrafen Gerichte ein und dieselbe Tat unterschiedlich, je nachdem welche geistige Verfassung der Täter zum Tatzeitpunkt hatte?
Da hast du die praktische Anwendung von der philosophischen Frage.
Grüße
Jonas