
Mal angenommen, du würdest dich selbst treffen. Zum Beispiel auf der Straße oder im Supermarkt, während du in der Schlange darauf wartest, dein Zeug zu bezahlen. Ganz egal wo. Was würdest du zu dir sagen? Ein Essay über Selbstreflexion und Selbsterkenntnis.
Der Finanzberater im Ruhestand
Porschefahren macht Spaß, besonders an einem solch sonnigen Frühlingstag. Die Sonne von oben durch das Panormadach des Targa 4S auf die Köpfe der beiden Insassen. Das hat sich Herr Hamann aber auch wahrlich verdient!
Nach vierzig Jahren in der Finanzbranche hat der unabhängige Berater ausgesorgt. Nun ist er selbst fast so alt wie es sein früheres Klientel war. Leute im Ruhestand.
Aber nicht einfach irgendwelche alten Menschen, nein. Herr Hamann war schon immer gerissen. Es suchte sich seine Kundschaft sehr gewählt aus. Bevorzugt ehelose oder geschiedene Leute. Alleinstehende, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet und Angst haben, dass die nächste Krise das Ersparte in Luft auflöst.
Noch besser war es natürlich, wenn sie keine Kinder hatten. Die reden doch nur rein und machen Hamann das schöne Geschäft kaputt. Und wenn es mal keine Krise gibt, mit der man den Menschen Angst machen kann, dann hilft man sich eben aus. Angst ist doppelt so motivierend wie Anreize, das lernte Hamann früh. Und nun genießt er den Lebensabend, in seinem Porsche auf der Landstraße und einer Blondinen auf dem Beifahrersitz, die mühelos seine Tochter sein könnte.
Was würde Herr Hamann sagen, wenn er sich selbst treffen würde? Würde er sich dazu beglückwünschen, über die Jahre hunderten von alleinstehenden Rentnern das Geld aus den Taschen gezogen zu haben, um sich damit selbst zu bereichern? Würde er sagen: “Das ist aber ein hübsches Gefährt, das haben Sie sich aber verdient!”?
Oder kann es nicht sein, dass er sich doch ab und an fragt, was aus dem einen oder anderen früheren Klienten geworden ist. Was ist mit diesen düsteren Tagen, an denen er zum Frühstück beim Zeitungsschmökern die Doppelseite mit den Todesanzeigen aufgeschlagen hatte? “Als die Kraft zu Ende ging, war’s kein Sterben – es war Erlösung! In Liebe und Dankbarkeit nehmen wir Abschied von Reinhard Wendler. Die Trauerfeier findet nächsten Dienstag auf dem Waldfriedhof Dahlem statt.”
Wendler, das war ein guter Klient.
Die alleinerziehende Mutter
Berlin, U6 – Schon wieder schreit das Kind! Eine junge Frau, fast selbst noch ein Kind, beugt sich über den Kinderwagen, aus dem das Geschrei kommt. Hilflos versucht sie das Kind zu beruhigen, bis sie aufgibt und selbst schreit: “Mann, hör’ endlich auf zu schreien!”
Nora ist 19 Jahre alt, Mutter, und seit knapp einem Jahr alleinerziehend. Das Geld, dass sie als Kassiererin verdient, reicht nur knapp für die beiden aus. Finanzielle Unterstützung von staatlicher Seite gibt es kaum. Auch sonst kann Nora nicht wirklich mit Unterstützung rechnen. Weder von ihren Eltern, noch vom ehemaligen Freundeskreis. Und schon gar nicht von Patrick, dem Vater. Die ganzen Sorgen lassen sie nachts nur selten länger als zwei Stunden am Stück schlafen.
Würde Nora sich selbst treffen, was würde sie sagen?
Vielleicht würde sie herablassend denken, warum so ein junges Ding sich überhaupt von so einem Typen wie Patrick schwängern lässt. Das hätte man sich ja denken können! Von so Typen ist selten etwas zu halten. Aber das weiß Nora nun selbst. Geblendet von seinen Komplimenten und seinem guten Aussehen dachte sie vor zwei Jahren an vieles, aber nicht an schreiende Kinder. Manchmal kommt es eben anders.
Vielleicht würde sie ihre eigene Antwort auch nachvollziehen können. Doch Mitleid ändert nichts an eigentlichen Situation. Nun ist das Kind da und offensichtlich fehlt es etwas, auch wenn dieses Etwas nur eine frische Windel bedeuten kann.
Nora könnte zu sich selbst sagen: “Hör mal, du hast einen Fehler gemacht und daran kann man jetzt nichts mehr ändern. Also höre auf dich zu beklagen und fang endlich an was zu machen! Dein Kind schreit, weil es etwas braucht. Es braucht vielleicht sogar einiges, aber was es nicht braucht, ist eine Mutter, die selbst rumschreit”
Nora würde sich selbst zuhören, kurz zögern, dann aber nicken und sagen: “Ja, du hast recht! Aber was soll ich tun?”
Doch eine Antwort braucht Nora nicht abzuwarten. Sie weiß selbst was zu tun ist: Aufhören, dem Kind die Schuld für ihre eigenen Fehler zu geben, die sie in den letzten Jahren gemacht hat. Anfangen, dem Kind zu geben, was es braucht.
Was würdest du sagen, wenn du dir selbst begegnen würdest?
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