
Achtsamkeit. Wieder so ein esoterisch klingender Mode-Begriff, der uns aktuell an jeder Ecke über den Weg läuft. Oder? Was soll das überhaupt sein, Achtsamkeit?
Der Begriff aus der buddhistischen Meditationslehre, im Englischen als mindfulness bezeichnet, kann für eine ganze Menge stehen. Zum Beispiel für die Eigenschaft einer Person, durch veränderte Wahrnehmung weniger zu leiden als andere. Klingt spannend! Deshalb ist Achtsamkeit seit den 1960er-Jahren auch langsam in der westlichen Welt der Psychologie und Psychotherapie zu finden, wenn zunächst auch als Nische für die Counter-Culture-Leute und Hippies.
Nun hat sich die Methode, falls man sie so nennen kann, zu einem Begriff entwickelt, der in aller Munde ist. Viele US-Unternehmer aus Silicon Valley schwören neben dem Stoizismus auf Mindfulness. Meriç Temuçin ist Leiterin der Herzfeld Akademie, praktiziert seit 20 Jahren Zen-Meditation und kennt sich mit dem Thema bestens aus. In ihrem folgenden Gastb
eitrag wird sie auch dir einen Einblick in Achtsamkeit geben.
Passend zum Thema Achtsamkeit: Vor ein paar Wochen hatten wir Markus von Einfach Meditieren hier bei Gedankennahrung, der in seinem Gastbeitrag über das Meditieren und Tipps für ein längeres Leben geschrieben hatte.
Auch dort hatte ich angekündigt, mal gesondert zur wissenschaftlichen Grundlage etwas zu schreiben. Da werde ich Achtsamkeit mit einbinden. Die beiden Themen sind vernetzt, versprechen viel und sind wichtig. Daher ist es mir wichtig, zu schauen, ob es sich um leere Guru-Versprechen handelt oder ob da tatsächlich etwas dahinter steckt, abgesehen vom Placeboeffekt.
Meine aktuelle Haltung ist da durchaus positiv! Aber so viel zur Einleitung.
Viel Spaß beim Lesen und ein großes Danke an Meriç von der Herzfeld Akademie.
Jonas
Achtsamkeit
Am Grabe vieler Menschen trauert, tief verschleiert, ihr ungelebtes Leben – Georg Jellinek, Staatsrechtler.
Die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemayer hält den modernen westlichen Mensch für unfähig, wirklich gegenwärtig und präsent zu sein. Einerseits drängen uns die Anforderungen und Überforderungen der Arbeitswelt, andererseits locken uns die Versuchungen der Konsumwelt. Mit unseren Gedanken stecken wir ständig in der Vergangenheit, sinnieren über die Zukunft oder planen das nächste Meeting. Dabei verpassen wird den Moment – das Jetzt. Wir sind damit beschäftigt, uns über längst vergangene Dinge aufzuregen oder haben Angst vor noch zu erwartenden Dingen. Dadurch entsteht Unruhe, Stress und Unzufriedenheit.
Diese Getriebenheit lässt uns durchs Leben hetzen und blockiert unsere Sicht auf die Dinge. Wir können sehen – sehen aber nicht hin. Wir können hören – hören aber nicht zu. Wir berühren uns – ohne uns zu spüren. Achtsam sein bedeutet, im gegenwärtigen Augenblick aufzuwachen, präsent zu sein und das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen zu erleben. Haben Sie heute Ihrem Bäcker schon einmal wirklich in die Augen geschaut? Die kleine Veränderung im Wachstum Ihres Kind wahrgenommen? Der Facharzt für Psychotherapie Dr. Michael Tischinger sagt dazu: „Was am Ende übrig bleibt ist, was wir zutiefst innerlich erlebt und gefühlt haben.“
Körper
Legen wir also los und hören zu und schauen hin! Aber wohin? Der Mensch hat viele Wege mit sich und anderen zu kommunizieren. Der erste Ansatzpunkt ist der Körper oder unser biologischer Organismus. Sind wir uns unseres Körpers bewusst und hören auf ihn, können wir Burn-Out, chronische Schmerzen und andere seelische Zustände schneller erkennen und verhindern. Wenn wir auf das hören, was uns der Körper sagen will und danach handeln, lassen sich körperliche Probleme frühzeitig erkennen. Wir müssen uns darauf einlassen in unseren Körper hineinzufühlen, anstatt ihn zu überhören oder gar zu betäuben. Ansonsten kommen Erschöpfung oder Stress mit voller Wucht zum Vorschein und verschaffen sich selbst Aufmerksamkeit.
Denken und Fühlen
Auch unseren eigenen Gedanken können wir genauer zuhören. Von einer Betrachter-Ebene auf die eigenen Gedanken schauen. Dadurch kann man sich seines inneren Dialogs bewusst werden. Glaubenssätze, Vorurteile, schlechte Erfahrungen, innere Antreiber, Unsicherheiten, Ängste – dies alles bestimmt unser Denken und lässt uns in nicht enden wollenden Gedankenströmen versinken. Durch Meditation kann man lernen, seine Gedanken erst einmal neutral zu betrachten und ohne Wertung wieder ziehen zu lassen, anstatt von ihnen gestresst zu werden. Hierzu reichen 10 Minuten, in denen Sie bewusst ‚an nichts denken‘ und dabei schauen, was sie alles doch denken. Erst wenn wir die Gefühle zulassen, die mit dem Gedanken kommen, sind wir davon beeinflusst. Können wir eine neutrale Haltung bewahren, können wir selbst entscheiden, wo wir hindenken.
Beziehungsebene
Wir sind Beziehungswesen. Wir brauchen Kontakt mit anderen Menschen. Und auch hier kann Achtsamkeit uns helfen, diese Beziehungen zu vertiefen und zu stärken. Laut einer Langzeitstudie der Harvard Universität sind Beziehungen zu Freunden und unseren Liebsten das stärkste Glücks- aber auch Heilmittel. Teilnehmer mit guten Beziehungen waren auch ins hohe Alter geistig fit und lebten deutlich länger. Auch hier fehlt es uns oft die Zeit und die Aufmerksamkeit, wirklich beim anderen zu sein, sich Zeit zu nehmen, zuzuhören. Kontakt zu halten. An andere zu denken ist keine Selbstverständlichkeit und geht im Trubel des Alltags oft unter. Daher nützt es auch hier sich nicht nur der Tatsache bewusst zu machen, dass Nähe für uns Menschen essentiell ist, sondern das wir diese auch pflegen und hegen müssen.
Spiritualität
Als spirituelle Wesen stellen sich uns die Fragen: Was macht mich aus? Was ist mir wichtig? Dafür gibt es eine schöne Metapher. Stellen Sie sich einen Krug vor, der mit großen Steinen gefüllt ist. Es passen immer noch Kieselsteine, Sand und Wasser in den Krug. Verändert man jedoch die Reihenfolge, finden die großen Steine darin keinen Platz mehr. Die großen Steine repräsentieren die Dinge, die uns im Leben wirklich wichtig sind. Wenn wir nicht inne halten und uns bewusst machen, was das für uns persönlich ist, müssen wir den Idealen anderer folgen oder ziellos durchs Leben irren. Daher sollten Sie auch in noch so stressigen Zeiten ein Termin mit sich selbst vereinbaren, an dem Sie Ihren ganz persönlichen inneren Kompass ausrichten. Denn nur wenn Sie währenddessen auch steuern, kommen Sie nach langer Fahrt auch da an, wo sie hinwollen. Wie sagt es Seneca so schön: „Wer nicht weiß, welchen Hafen er ansteuert, für den ist kein Wind günstig.“
Achtsamkeit kann auf viele Arten praktiziert und angewendet werden. Es reicht schon, ab und zu durchzuatmen und sich seiner Gedanken bewusst zu werden. Oder sich selbst mit ungeliebten Aufgaben ganz intensiv zu beschäftigen und ‚ganz bei der Sache‘ zu sein. Einfach nur mal Wäsche aufhängen, Spazieren gehen oder zuhören. Sonst nichts. Forscher haben herausgefunden, dass es nicht so sehr davon abhängt, was wir machen, sondern mit welcher Haltung wir es machen. Sind wir in einem Moment wirklich präsent, dann kann auch ein ganz unscheinbarer Tag bedeutend werden. Liegen wir jedoch am Strand und sorgen uns um das nächste Meeting, spüren wir die Sonne auf unserer Haut nicht. Achtsamkeit lehrt vor allem eines: Die kleinen Dinge des Lebens zu genießen. Denn die machen das Leben aus. Wenn man nur genau genug hinschaut -hört -fühlt. „Denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, dass sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht.“ Johann Wolfang von Goethe.
Achtsamkeitsübung für Anfänger
Körper: Hören Sie auf das kleinste Ziehen in Ihrem Körper. Konzentrieren Sie sich darauf. Was will Ihnen Ihr Körper damit sagen? Reagieren Sie und handeln Sie entsprechend, um das Unwohlsein aufzulösen.
Denken und Fühlen: Meditieren Sie immer wenn Sie auf Bus oder Bahn warten müssen. Nehmen Sie die Gedanken war, die auf Sie einprasseln und lassen Sie sie bewusst abprallen.
Beziehung: Schauen Sie einen Tag lang jedem Menschen, dem Sie begegnen in die Augen und nehmen Sie ihn wahr.
Spirituell: Nehmen Sie sich einen Tag im Monat und visualisieren Sie ihren idealen Tagesablauf für dieses Datum in einem Jahren.
Über die Gastautorin:
Meriç Temuçin ist Leiterin der Herzfeld Akademie und praktiziert seit 20 Jahren Zen-Meditation. Die Herzfeld Akademie bietet professionelle Coachingausbildungen speziell für Frauen. Zu den Themen zählen neben Gelassenheit auch Zeit- und Selbstmanagement. Mehr Informationen auf der Website.
Interessanter Beitrag, der vielen die Augen öffnen könnte!
Ich werde auf jeden Fall versuchen aufmerksamer durch den Tag zu gehen 🙂
Hallo Katja,
freut mich, wenn der Gastbeitrag helfen konnte.
Gruß
Jonas
Schöner Beitrag zum Thema Achtsamkeit. Leider laufen wir ja oftmals nur wenig achtsam und im Autopiloten durch die Gegend. Eine Übung, die ich auch noch schön finde und die man auch prima in den Alltag einbauen kann, ist die 5-4-3-2-1 Übung. Dabei konzentriert man sich erst auf 5 Dinge die man sehen kann, 5 die man hören kann, fühlen, … dann nur noch auf vier, später auf drei usw. So lernt man nach und nach, sich auf wenige Dinge zu fokussieren, dafür aber ganzheitlicher und achtsamer. Kann man schön mit einem Spaziergang draußen in der Natur verbinden!