
Stell dir vor, du hättest aus unbestimmten Gründen die Macht, die Essensausgaben der Schulkantinen in ganz Deutschland zu gestalten. Du könntest die verschiedenen Stationen der Ausgabe nach Belieben anordnen. Du kannst die Reihenfolge der einzelnen Menüs auf der Speisekarte bestimmen. Allerdings hast du keinen Einfluss auf das Angebot selbst, d.h., du kannst kein Essen streichen.
Du hast nun verschiedene Möglichkeiten, deine zufällig erhaltene Macht zu nutzen. Beispielsweise könntest du die Laufrouten, Speisekarten usw. so optimieren, dass der Nahrungsmittellieferant, der dir am meisten Bestechungsgeld zusteckt, den größten Vorteil zieht – egal, was das für die Gesundheit der Kinder bedeutet. Oder: Du arrangierst alles so, dass die Gesundheit der Kinder optimiert wird.
Studien haben gezeigt, dass selbst vermeintlich banale Dinge wie die Reihenfolge der Essensausgaben (Obst vor Kuchen? Nachtisch am Eingang oder an der Kasse?) eine enorme Auswirkung auf unser Verhalten haben kann. In diesem Fall geht es um das Essverhalten von Schulkindern.
Es gibt eine Möglichkeit, ohne erhobenen Zeigefinger das Verhalten von Menschen zu ihren Gunsten zu beeinflussen: Das als “Nudging” bezeichnete Schubsen der Konsumenten/Bürger in die richtige Richtung, das seit einigen Jahren auch von politischen Größen wie Barack Obama und Angela Merkel benutzt wird. Doch was versteht man unter diesem Begriff?
Baue ein Haus für andere
Nun hast du (vermutlich) nicht die Macht, über die Gestaltung der deutschen Schulkantinen zu bestimmen. Dennoch: Viele von uns haben in ihrem Leben mindestens einmal die Möglichkeit, Einfluss auf die Entscheidungsfindung unserer Mitmenschen auszuüben. Manche von uns sind sogar von Berufs wegen Entscheidungsarchitekten. Das sind zum Beispiel Politiker, Ärzte, Verkäufer, Bankberater und Eltern – Personen, die über die Möglichkeiten verfügen, Einfluss auf die Entscheidung anderer auszuüben (Patienten, Kunden, Kinder). Wie Architekten haben sie die Wahl zwischen verschiedenen Arten “das Haus aufzubauen”, müssen aber auch einige Vorgaben beachten.
Wissen Entscheidungsarchitekten, dass so ziemlich jede Kleinigkeit unbewusst Einfluss auf die Entscheidung ihrer “Kunden” hat, und sind die wohlgewollt, dann errichten sie das Gebäude so, dass der Nutzen des Kunden maximiert wird, auch wenn dieser gar nichts davon weiß. Das geschieht unbewusst. Die Person, die man positiv beeinflussen will, wird einfach in die gewünschte Richtung “geschubst”. Daher der Name Nudging. Dabei geht es nicht darum, eine Person zu etwas zu zwingen. Im Gegenteil! Nichts ist so wichtig wie die Freiheit des Einzelnen zu wahren. Aber dazu später mehr.
Die ruhigste Fliege der Welt
Auch wenn ich später einige Beispiele für Nudging vorstellen werde, glaube ich, dass es an dieser Stelle dem Verständnis hilfreich ist, zumindest einen kleinen Anwendungsfall zu schildern. Wenn du männlich bist, dann kennst du das vielleicht schon. Es ist eine unangenehme Wahrheit, aber Männer pinkeln häufig daneben. Nun bringt es nichts, Schilder über den Pissoirs zu befestigen, auf denen steht: Bitte achten Sie, dass sie in und nicht außerhalb der Toilette pinkeln!
Wie gesagt – vieles geschieht unbewusst. Was aber am Flughafen Schipol in Amsterdam geholfen und sich seitdem über die ganze Welt verbreitet hat, klingt ulkig. Ja irgendwie schon lächerlich, wenn man bedenkt, dass es funktioniert. An der Innenseite der Toilette wurde ein Bild von einer Fliege aufgeklebt. Der Ökonom Kieboom untersuchte, ob es zur vermuteten Veränderung kam. Das Ergebnis: 85% weniger geht daneben. Das ist Nudging in ihrer Reinform! Übrigens: Auch an der Schule, an der ich vor ein paar Jahren mein Abitur gemacht habe, waren die Toiletten mit Fliegen-Stickern ausgestattet. Dieser Trick ist mittlerweile weit verbreitet.
Was ist nun Nudging konkret?
Das Konzept des “leichten Schubsens” geht auf den Ökonomen Richard Thaler zurück, der schon in so manchen Beiträgen von Gedankennahrung aufgetaucht ist (zum Beispiel beim Beitrag über den Endowment-Effekt).
Das Nudging ist eine Methode, mit der das Verhalten von Menschen auf systematische und vorhersagbare Weise beeinflusst wird. Und zwar ohne Verbote und ohne die ökonomischen Anreize zu verändern. Meist geschieht das unbewusst und das Interesse der Menschen wird berücksichtigt oder steht gar im Vordergrund. Die Methode ist der jungen Bewegung des libertären Paternalismus zuzuordnen. Dabei ist der libertäre Aspekt des Ansatzes, dass die Entscheidungsfreiheit des Menschen gewahrt bleibt.
Libertäre Paternalisten wollen es den Menschen leichtmachen, ihren eigenen Weg zu gehen; sie möchten niemanden daran hindern, von seinen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. – Thaler und Sunstein (Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt)
Damit erweitern die Autoren den negativ konotierten Begriff des Paternalismus, der für oben-herab und aufgezwungen steht. Entscheidungen werden aber nicht erzwungen, sondern höchstens gelenkt. Denn sozialwissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass wir uns keinesfalls immer für die beste Option entscheiden. Ehrlich gesagt sind wir ziemlich schlecht darin, gute Entscheidungen zu treffen. Schuld daran sind häufig beschränkte kognitive Fähigkeiten, wenig Selbstkontrolle – oder einfach mangelnde Informationen und Aufmerksamkeit.
Grundannahme: Wir sind keine Econs!
Das widerspricht natürlich dessen, was VWL-Studenten seit Jahrzehnten in der Grundlagenvorlesung zu hören bekommen. Der Mensch ist kein Homo oeconomicus, der immer wohlinformiert und stetig rein rational, fast schon mit mathematischer Genauigkeit, entscheidet. Wir sind keine Econs sondern Humans, wie es Thaler nennt: Wesen mit Hang zu (aus volkswirtschaftlicher Perspektive) fehlerhaftem Verhalten.
Econs reagieren vor allem auf ganz konkrete Anreize im Sinne der Nutzenmaximierung. Wenn Süßigkeiten besteuert werden, dann kaufen sie weniger davon. Sie würden sich aber niemals von solchen “irrelevanten” Faktoren wie etwa der Reihenfolge, in der ihnen verschiedene Optionen vorgestellt werden, beeindrucken lassen – Richard Thaler (Nudge, S. 19)
Zurück zu unserem Kantinen-Beispiel von oben. Für Econs macht es keinen Unterschied, wie die einzelnen Stationen angeordnet sind. Wären wir tatsächlich Econs, dann wäre es egal, ob wir uns bereits am Eingang der Kantine für oder gegen Nachtisch entscheiden müssen, oder kurz vor der Kasse. Selbstverständlich verhalten wir Menschen uns aber nicht wie Taschenrechner – sehen wir ein leckeres Schokoladen-Eis an der Kasse, dann haben wir auch plötzlich verdammt Lust darauf und greifen zu, auch wenn wir vorm Betreten der Kantine noch eisern überzeugt waren, auf den Nachtisch zu Gunsten der Sommerfigur zu verzichten.
Und was ist nun ein Nudge? Die Autoren beantworten diese Frage so: “Nach unserer Definition ist jeder Faktor, der das Verhalten von Humans signifikant verändert, während er von Econs ignoriert würde, ein Nudge.” Humans lassen sich wie Econs von konkreten Anreizen beeinflussen (Verbote, Belohnungen), aber auch unbewusst durch Nudges.
Beispiele für Nudges
Da dieser Artikel schon so groß genug ist, habe ich den Teil über Nudging-Beispiele und Anwendungsfälle ausgelagert. Der weiterführende Artikel ist hier zu finden (Drei Beispiele für Nudges (Link folgt)). Außerdem lässt sich auf dem Nudge Blog von John Balz eine ganze Liste an Anwendungsbeispielen finden. Großzügigerweise hat Balz ebenfalls einen Auszug aus dem Buch von Thaler und Sunstein hochgeladen (12 reale Beispiele für Nudging).
Weiterführende Literatur
Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel Kahneman. Standard-Werk über jegliche Art der kognitiven Verzerrungen und systematischen Denkfehlern. Pflichtlektüre!
Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt von Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein. Gerade die ersten Kapitel können als Kahneman-Light gesehen werden. Locker zu lesen, dennoch sehr informativ. Wer “Schnelles Denken, langsames Denken” gelesen hat, der erkennt viele Dinge wieder.
Freakonomics von Steven Levitt und Stephen Dubner. Ein Klassiker und der Beginn einer ganzen Buchreihe über ungewöhnliche wirtschaftliche Zusammenhänge und Statistiken. Unterhaltsam, aber auch lehrreich. Der Podcast (Freakonomics Radio) ist auch zu empfehlen.
Für die Akademiker unter meinen Lesern: Wissenschaftliches Paper über Choice Architecture von Richard H. Thaler, Sunstein und Balz.
Und was meinst du dazu?
Hast du noch Beispiele für Nudgings finden können?
Was hältst du vom sogenannten liberalen Paternalismus?
Gerne in die Kommentarspalte posten. Ich freue mich auf die Diskussion!
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Der Artikel ist ein gutes Beispiel für die gestörte Selbstwahrnehmung und den Wirklichkeitsverlust unserer sich aristokratisch dünkenden Eliten; die begreifen nämlich einfach nicht, warum die plebs – man will doch nur deren Bestes! – so uneinsichtig und gar störrisch ist und sie zunehmend zum Teufel schicken will.
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Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die Politiker und die Journalisten, die sich besonders gerne in dieser dünkelhaften Form der Volkserziehung hervortun, sind die Diener und nicht die Patres des Volkes. Gleiches gilt für jene, die sich in deren pädagogische Rolle hineinimaginieren (eine doppelte Anmaßung). Sie sollten sich einen Hund anschaffen. Servus!
Ehrlich gesagt verstehe ich Ihre Kritik nicht ganz.
Hätten Sie sich den verlinkten Artikel angeschaut, dann hätten Sie Anwendungsbeispiele finden können, in dessen Mittelpunkt genau der Nutzen für die Bürger steht. Beispielsweise lässt sich mit der Nudge-Methode die Unfallwahrscheinlichkeit auf einer gefährlichen Straße vermindern, und zwar bei gleichzeitig weniger Kosten (Steuergelder des Volkes) als andere Methoden. Somit kommt das Nudging, richtig eingesetzt, sogar auf doppelte Weise den Bürgern zu Gute.
Ich habe das Gefühl, dass Ihre Wut auf “die da oben” ihre Urteilsfähigkeit negativ beeinflusst. Sie haben gleich etwas negatives unterstellt und sich nicht nach dem Realeinsatz der Methode erkundigt. Ich gebe Ihnen aber recht, dass man bei solchen Methoden, die den Hang ins Manipulative haben, besonders vorsichtig sein muss. Aber schauen Sie sich am besten mal die interessanten und positiven Beispiele an, über die ich hier berichtet habe: http://gedankennahrung.de/nudging-beispiele-richard-thaler/
Grüße
Jonas
Ein guter, knapper Beitrag, der mich diesen wundervollen Blog hat finden lassen *dafür schon mal Daumen hoch*
Ich bereite selbst einen Beitrag zum Thema in Bezug auf gesundes Verhalten und die Erreichung von Zielen (ohne Gesetze und Verbote) vor und finde es spannend andere Beiträge dazu zu lesen.
Aus meiner Sicht dürfen wir nicht vergessen, dass wir als Menschen immer beeinflusst werden von Interessen anderer und wir (Vorsicht doppelte Verneinung) nicht nicht-nudgen können.
Gruß, Anja
Heute las ich in der Schlagzeile der SZ:
“Bundestag will weitreichendes Überwachungsgesetz beschließen”
Mal abgesehen von dem Skandal, dass wir wieder mal in einem Überwachungsstaat leben, ist alleine diese Schlagzeile in meinen Augen ein gutes Beispiel für Nudging.
Alleine das Wissen darum, jederzeit überwacht werden zu können wird das Verhalten vieler Nutzer von Computern und Smartphones beeinflussen.
Hallo Klaus,
ja, die Schlagzeile kann eine manipulative Wirkung auf viele Bürger haben. Um einen Nudge handelt es sich dabei allerdings nicht. Nudges sind in der Regel subtile psychologische Tricks, die nicht auf Angst oder gar Drohung zurückgreifen, sondern öfters das Positive betonen, wie beispielsweise der Staatenstolz von Texaner im Kampf gegen die Umweltverschmutzung. (http://gedankennahrung.de/nudging-beispiele-richard-thaler/)
Nicht alles, was einen manipuliert und psychologisch “unter Druck setzt”, ist ein Nudge im klassischen Sinne.
Liebe Grüße
Jonas
Toller Artikel,
ich habe eine Frage zu ein paar Beispielen, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob es sich hierbei um Nudges handelt, vielleicht kann mir hier geholfen werden.
Zum einen frage ich mich, ob die Besteuerung auf Plastiktüten (die inzwischen 10-20 ct kosten) ebenfalls ein Nudge ist. Oder ist das ein ökonomischer Anreiz? Falls es kein Nudge ist, frage ich mich, wieso dann der Emissionshandel, laut Thaler und Sunstein, ein Nudge sein soll? Hier geht es doch klar um monetäre Anreize, die die Unternehmen haben. Und das Beispiel “Jeden Tag einen Dollar” bei dem junge Frauen einen Dollar pro Tag bekommen an dem sie nicht schwanger werden ist doch auch ein monetärer Anreiz. Ich bin mir unsicher in der Abgrenzung und würde mich über eine Antwort freuen.
LG
Hi Natalie,
danke für deine spannende Frage. In der Regel verändern Nudges in der Reinform nicht die ökonomischen Anreize. Im Gegenteil, Nudges sollen ja gerade nicht-finanzielle Mittel zur Beeinflussung von Verhalten hin zu etwas Wünschenswertem sein.
Die Besteuerung von Plastiktüten ist folglich kein Nudge. Ein Beispiel in diesem Kontext wäre ein Poster hinter der Verkäuferin anzubringen, auf dem Bilder von Plastikstrudeln im Meer mit einer klar sichtbaren Plastiktüte wären. Dieses Poster würde Konsumenten an die Folgen erinnern, aber nicht mehr oder weniger Geld aus deren Tasche ziehen. Ein Zwang entzieht in der Regel einer Maßnahme die Grundlage, als Nudge bezeichnet werden zu können.
Durchaus komisch also, dass Thaler und Sunstein Emissionshandel als Nudge bezeichnen. Auf Seite 255 der deutschen Ausgabe erklären sie ihren Punkt genauer:
“Zudem ist dieser Ansatz (Anmerkung von Jonas: handelbare Emissionszertifikate) im Geiste mit dem libertären Paternalismus verwandt, auch wenn Emissionen, die ohne Emissionsrecht erfolgen, bestraft werden und somit ein gewisser Zwang ausgeübt wird.”
Die Kurzform: Emissionshandel ist zumindest nicht in der strengen Auslegung des Begriffs als ein Nudge zu sehen. Außerdem könnte man den Autoren vorwerfen, dass sie einer Idee, die sie befürworten (Emissionshandel) in das Korsette des Nudges zwängen, um zu zeigen: Sieht her, Nudge erklärt auch so etwas Großes und Relevantes! (Aber das wäre zynisch).
Ich hoffe, das hilft 🙂
Gruß
Jonas
Hi Jonas,
vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Das mit dem Emissionshandel verstehe ich jetzt besser, bzw. kann es besser einordnen ;), allerdings frage ich mich, ob die Besteuerung von Plastiktüten wirklich kein Nudge ist. Es scheint alles etwas schwammig zu sein. Ich lese momentag den Artikel: The Definition of Nudge and Libertarian Paternalism: Does the Hand Fit the Glove? von Pelle Guldborg Hansen der dort schreibt und Sunstein zitiert, dass die Besteuerung von Plastiktüten ein Nudge sei.
“For instance, while imposing a tax is said not to be a nudge, and the same goes for placing candy in an obscure place in the supermarket,
choosing a charm price or asking costumers to pay 5 cents for plastic bags both count as nudges.”
Der Autor scheint diese Aussage auch in Frage zu stellen (ich habe ihn noch nicht bis zum Schluss gelesen aber er schreibt auch:
“But, as someone with philosophical inclinations
might ask, where is the objective point of difference
to be found between the nudge provided by a 5-cent
tax on plastic bags or placing candy at eye height,
and a non-nudge of a 5-dollar tax on plastic bags or
placing candy behind the counter?”
Ich finde diese Abgrenzung sehr schwierig, denn auch Thaler und Sunstein schreiben in ihrem Buch von dem schon in meinem letzten Post erwähnten “jeden-Tag-ein-Dollar” Nudge. Für mich scheint die Höhe des monetären Anreizes wohl der ausschlaggebene Punkt zu sein, oder was meinst du?
Ich will meine Masterarbeit übers Nudging schreiben und bin u.a. deshalb sehr an dem Thema interessiert. 🙂
LG Natalie