Jeder dritte Deutsche wird mindestens einmal in seinem Leben von einer psychischen Krankheit betroffen sein. Zumindest wenn man einer häufig zitierten Statistik glauben. Die genaue Zahl ist auch nicht wichtig. Selbst wenn es nur jeder Zehnte wäre, hätten wir Hunderttausende von Leuten, die zu unterschiedlichen Zeiten durch psychischen Leiden gequält werden.
Man könnte auch das Gegenteil argumentieren, nämlich dass noch mehr Leute von einer psychischen Krankheit betroffen sein können als die Statistik aufzeigt. Stichwort Dunkelziffer. Eine Statistik kann nur einen Fall aufnehmen, wenn der oder die Betroffene sicht auch behandeln hat lassen.
Da wären wir auch schon bei dem Problem. Wenn wir körperliche Leiden haben, gehen wir zum Arzt. Klarer Fall. Aber psychische Krankheiten sind auch heute noch ein schambesetztes Thema. Vorurteile über psychisch Kranke, die Ursachen, über Psychotherapien und Psychiatrien beherrschen die Köpfe. Und wo immer wir Vorteile finden, da finden wir Unwissen als Ursache.
Die Psychotherapeutin und Bloggerin Lena Kuhlmann hat ein Aufklärungsbuch geschrieben: Psyche? Hat doch jeder! Wichtige Begriffe, die man leicht verwechseln kann, werden ebenso erklärt wie verschiedene Therapieansätze und Krankheitssymptome.
Mir wurde freundlicherweise ein Exemplar zugesendet und in diesem Beitrag möchte ich detailliert erklären, was mir an Lenas Buch besonders gefallen hat. Die Kurzfassung: Eine klare Empfehlung, besonders auch für Nicht-Betroffene und Interessierte. Eigentlich für alle, denn die gesellschaftliche Stigmatisierung von psychisch Kranken ist wirklich ein Problem, dass sich mit etwas Hintergrundwissen leicht entgegnen lässt.
Nun aber etwas ausführlicher.
Wie bereits gesagt ist Lenas Motivation: Aufklärung. Und da es dafür einiges zu tun gibt, wundert es mich nach dem Lesen immer noch, wie sie es schaffen konnte, das alles in ein 250-seitiges Buch zu packen. Ein Buch, das sich verschlingen lässt wie Unterhaltungsroman. Überhaupt nicht trocken, dennoch sehr fundiert und zugleich leicht zu verstehen. Das Buch ist in vier Abschnitte unterteilt, die ich nacheinander besprechen möchte.
Teil I: Psyche hat jeder, auch wenn man sie nicht sehen kann
Mir persönlich gefällt es sehr, dass der erste Teil sich der Theorie widmet. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen anders, als es wirklich ist. Schließlich handelt es sich hier nicht um ein wissenschaftliches Sachbuch. Aber die Vorurteile beginnen ja schon mit der Frage „Was ist Psychotherapie?“ Da sitzt einer auf einem Sessel und hört den Sorgen anderer zu, schwafelt irgendwas von Penisneid und Ödipuskomplex und kassiert dann einen Haufen Geld.
Denkste.
Entsprechend führt der erste Teil in die Welt der Psychoanalyse, Tiefenpsychologie (was Lena selbst praktiziert) und Verhaltenstherapie ein. An keiner Stelle ist Lena dogmatisch. Im Gegenteil! Sie kritisiert ihre eigene Schule und relativiert die verschiedenen Therapieansätze, wenn sie sagt: Hauptsache es funktioniert bei dieser Person. Denn Leute sind unterschiedlich, nur das Ziel ist immer das gleiche: Leidensverminderung und Heilung.
Und dieser Punkt ist für mich auch schon Kaufgrund genug. Ich reagiere sehr empfindlich auf dogmatisches „Das musst du machen“-Zeug und bin, was Psychoanalyse angeht, eher kritisch eingestellt. Umso mehr freut es mich zu sehen, wie Lena Freuds Drei-Instanzen-Modell in die heutige wissensreichere Welt einordnet.
Neben den klassischen drei Therapiemöglichkeiten erklärt Lena auch, warum die Kindheit so besonders für die psychische Entwicklung ist (Stichwort: Bindungstheorie) und wie sich die Psyche versucht, selbst zu schützen. Abwehrmechanismen wie Verdrängung, Projektion, Wendung gegen das Selbst und Rationalisierung werden vorgestellt. Außerdem werden intrapsychische Konflikte (wie Selbstwertkonflikt oder Identitätskonflikt) kategorisiert und für den Leser besser greifbar gemacht.
Im Unterkapitel zu Verhaltenstherapie dreht sich alles um das Lernen. Die Begriffe klassische Konditionierung, operante Konditionierung (positiv oder negativ, direkt oder indirekt), soziales Lernen und kognitives Lernen werden in wenigen Seiten ausreichend erklärt, um ein grobes Verständnis zu erlangen. (Zu Sozialem Lernen gibt es übrigens auch auf Gedankennahrung zwei Artikel: Soziales Lernen: Werden unsere Fähigkeiten durch andere beeinflusst? und Erlernte Hilflosigkeit: Ist Lernen immer gut?)
Teil I schließt mit einem Blick durch die medizinische Brille auf die Psyche ab. Was halten Gehirnforscher und Ärzte für die Ursachen von psychischen Krankheiten? Sind Depressive einfach nur Menschen mit Serotonin-Mangel? Oder verwechselt man da Ursache und Folge miteinander?
Teil II: Die kranke Psyche
Mit dem fundierten Wissen aus Teil I ist man gut vorbereitet für den Rest des Buches. Es ist mein persönlicher Lieblingsteil, aber ich kann verstehen, dass die meisten Leser andere Fragen beantwortet haben möchten, wenn sie ein Buch über Psyche lesen. Und Antworten finden sie ganz klar in den nächsten beiden Teilen.
In Teil II geht es konkret um Betroffene. Wann sollte man mit seinen Sorgen zum Arzt gehen? Antwort: spätestens, wenn das eigene Leben eingeschränkt wird oder es zu akuter Selbst- oder Fremdgefährdung kommt. Natürlich auch früher, wenn man Hilfe sucht.
Und wo genau soll man dann hingehen? Was unterscheidet einen Psychiater von einem Psychotherapeuten? Von einem Psychologen, Psychosomatiker, Sozialtherapeuten, …?
Konfrontiert mit diesen ganzen Psycho-Begriffen wundert es einen nicht, dass Fachfremde verwirrt in die Luft starren. Lena erzählt eine Anekdote, die ich mit meinem Philosophieabschluss in ähnlicher Form auch schon häufig erlebt habe. Auf einer Party erklärt sie in Small Talk, dass sie von Beruf Psychotherapeutin ist. Ihr Gegenüber fragt sie, ob sie denn kurzfristig noch einen Platz frei hätte. Schließlich gehe sie bald in Urlaub und ihr Rücken plagt sie zurzeit besonders. Nachdem Lena ihr dann erklärt, dass sie damit besser bei einem PHYSIOtherapeuten aufgehoben sei, verlässt sie die Szene. (Philosophie und Psychologie sind, ganz nebenbei, übrigens auch nicht dasselbe).
Nach dem Lesen dieses Unterkapitels weiß man nun besser Bescheid, welche verschiedenen Ansprechpartner es gibt. Auf einen Therapieplatz wartet man trotzdem mehrere Monate. Zum Glück hat Lena ein paar Insidertipps parat, die den Erfolg erhöhen können.
Und wenn man nicht warten will oder kann? Was ist mit Alternativen?
Systemische Therapie ist ein seit 2008 als wirksam eingestuftes Verfahren, das nachweislich zu Erfolgen führen kann. Im Zentrum dieser Therapieform steht das soziale Umfeld (allen voran die Familie) des Betroffenen. Klare Empfehlung von Lena.
Von Heilpraktikern für Psychotherapie sollte man sich im Zweifelsfall lieber fernhalten. Grund: Wenig Regularien und unzureichende Ausbildung. In Österreich sei das Heilpraktizieren sogar verboten.
Was ist mit Coaches, wie man sie ab und an auch bei Gedankennahrung als Gastautoren findet? Hier findet Lena überraschend gute Worte. Wenn es um Motivation und Selbstwertgefühl geht, dann kann einem der richtige Coach schon helfen. Coaching kann erfolgreich sein. Schließlich bedient man sich den gängigen Methoden der Psychologie. Allerdings, und hier sollte man aufpassen, gibt es keine wirklich wissenschaftlich fundierte Lehre oder zentrale Ausbildungsordnung. Coach kann sich jeder nennen, Psychotherapeut nicht.
Wie ist es eigentlich mit Psychopharmaka. Nicht alle machen einen taub und träge! Außerdem: Wie sieht es in einer Psychiatrie aus? Wird man da wirklich gegen seinen Willen festgehalten und mit Medikamenten vollgepumpt? Auch hier schafft Lenas Buch für Aufklärung.
Natürlich muss auch über die „Schattenseiten“ der Psychotherapie gesprochen werden. Es soll schon häufig vorgekommen sein, dass sie Paare getrennt haben, nachdem ein Partner eine Therapie angefangen hat. Auch im Beruf kann ein „Der ist ja verrückt!“-Stempel, wie man ihn in einer (noch) unaufgeklärten Gesellschaft finden kann, gewisse Steine in den Weg legen, selbst nach einer erfolgreichen Behandlung. Und um dem entgegenzuwirken räumt der Rest des zweiten Teils mit allerhand Vorurteilen zu Ursachen von psychischen Erkrankungen, Selbstmord, Halluzinationen und und und auf.
Teil III: Psychotherapeuten können keine Gedanken lesen, manchmal aber zaubern?
Was macht eigentlich ein Psychotherapeut? Wie läuft so eine Sitzung ab? Was erwartet mich? Diese Fragen stehen in Teil III im Mittelpunkt. Es geht um die therapeutische Beziehung und um das Setting. Der Patient steht im Mittelpunkt.
Außerdem erklärt Lena das Tagesgeschäft und die Ausbildung eines Psychotherapeuten. Ein Blick hinter die Kulissen verrät, wie sie wirklich arbeiten.
Teil IV: Die Gesunde Psyche
Der Leser weiß nun, was eine kranke Psyche auszeichnet und welche Wege es gibt, sie wieder gesund zu machen. Teil IV bietet eine Sammlung von Tipps, damit es gar nicht erst soweit kommen muss.
Okay, dieser Aussage würde Lena nicht zustimmen, denn diesen Tipps zu folgen ist noch kein Garant dafür, nie von einer psychischen Krankheit geplagt zu werden. Daher formuliere ich es anders: Hier geht es um Tipps, die nachweislich helfen können, die psychische Stimmung zu heben und zu einer gewissen Ausgeglichenheit und psychischen Resilienz führen können. Dazu zählen Dinge wie Sport, Achtsamkeitsübungen sowie das Führen eines Tagebuchs.
Das Ende des Buchs
Da es sich bei Psyche? Hat doch jeder! nicht um einen Roman handelt (auch wenn ich das Buch in zwei Tagen wie eines verschlungen habe), kann ich das Ende gut vorwegnehmen. Es bringt, wie ich finde, die Haltung Lenas und den Kern des Buchs gut auf den Punkt. Besser gesagt, auf den Semikolon.
“Eine einzige Psychotherapeutin kann die Gesellschaft und das Gesundheitssystem sicherlich nicht verändern. Aber einen Anfang setzen, nach dem es hoffentlich weitergeht. Und deswegen endet dieses Buch nicht mit einem Punkt, sondern mit einem Semikolon, in Anlehnung an die vielen Betroffenen, die sich dieses Satzzeichen haben tätowieren lassen, um aufzuklären oder sich daran zu erinnern, dass das Leben selbst nach dunkelsten Krisen weitergeht. Das finde ich ziemlich passend, denn auch wenn dies der allerletzte Satz ist, geht unsere Aufklärungsarbeit und Hilfe für psychisch Kranke natürlich jeden Tag weiter;”
Vielen Dank Lena für deine Aufklärungsarbeit!
Jonas
Hier schreibt Lena regelmäßig über Psychotherapie und Sonstiges: Freud Mich
Veröffentlicht über EDEN BOOKS Verlag Berlin, August 2018.
Lena says
Daaanke für diese tolle und ausführliche Rezension. Ich habe mich sehr gefreut 🙂
LG, Lena